Als ich zum erstenmal FUNNY GAMES von Michael Haneke gesehen und den tiefen Schock, den dieser einzigartige Film bei mir ausgelöst hatte, halbwegs zu verarbeiten begann, kam in mir die Frage auf, welcher Film oder jedenfalls welches Werk außer Kubricks CLOCKWORK ORANGE Inspiration für Hanekes Film gwesen sein könnte. Die Antwort muss jetzt, nachdem ich ihn (in der letzten Nacht) gesehen habe, lauten: Claude Chabrols LA CÉRÉMONIE, basierend auf dem Roman JUDGEMENT IN STONE von Ruth Rendell.
In dem mit Isabelle Huppert, Sandrine Bonnaire, Jacqueline Bisset und Virginie Ledoyen hochkarätig besetzten Psychothriller geht es um viel mehr als nur um – fraglosen intensiv vorhandenen – Psychothrill: es geht auch und vor allem um Fragen der Moral, der Schuld und des Klassenkampfs, verbunden mit einer Kritik am rechtsstaatlichen Justizsystem und der erneuten Veranschaulichung, wie einfach es doch ist, Leben zu vernichten. Im Gegensatz zu Hanekes gleichermaßen folgen- wie hoffnungslosem Film schließt LA CÉRÉMONIE indes mit einer religiös-gerecht anmutenden Wendung.
Die den genannten Themen zugrundeliegende Geschichte ist schnell erzählt: eine junge Frau wird von einer wohlhabenden, gutbürgerlichen vierköpfigen Familie als Hausmädchen angestellt. Die Mutter ist Inhaberin einer Galerie, der Vater Direktor einer Fischkonservenfabrik. Das große Haus der Familie befindet sich in relativer Abgeschiedenheit außerhalb eines Dorfs. Das wortkarge, emotionslose und in sich verschlossene Hausmädchen erfüllt seine Pflichten überordentlich und zu aller Gefallen, bemüht sich aber trickreich und anfangs auch erfolgreich darum, dass ein wesentlicher Makel nicht aufgedeckt wird: ihre Legasthenie. Dass sie in ihrer Freizeit nur fernsieht und niemals liest wird zwar bemerkt, aber ohne Schlussfolgerung auf ihre Behinderung. Als das Hausmädchen sich mit einer mysteriösen Postangestellten aus dem Dorf anfreundet, die der Familie, vor allem der Mutter gegenüber, feindlich gesinnt ist, ändert sich aufgrund der Einflüsterungen ihrer neuen Freundin ihre Einstellung zur Familie mehr und mehr bis hin zur Verachtung. Die beiden Freundinnen kommen sich bis zur nicht nur äußerlichen Identität näher, vor allem als sie lachend feststellen, dass sie beide wegen Tötungsdelikten beschuldigt und aus Mangel an Beweisen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen worden waren. „Hast du es getötet?“ – „Es gab keine Beweise. Ausserdem: welche Mutter würde ihr Kind töten? Und du? Hast du deinen Vater getötet?“ – „Sie konnten es nicht beweisen.“ Als die ungewollt schwangere Tochter des Hauses herausfindet, dass das Hausmädchen unter Dyslexie leidet und sie in helfender Absicht zur Rede stellt, wird sie vom Hausmädchen erpresst. Die Sache kommt raus, das Hausmädchen wird gefeuert. Um ihre Habseligkeiten abzuholen, statten sie und ihre Freundin der Familie, die gemeinsam einen Opernabend im Fernsehen verfolgt, einen letzten Besuch ab. Dabei stoßen sie in der Küche auf die zur Jagd frisch geölten Gewehre. Und das Hausmädchen weiß, wo sich die Munition befindet…
Es ist absolut unmöglich, sich der Dunkelheit dieses Films, die von Anbeginn an auf ihm lastet wie ein aufziehendes grollendes Gewitter, zu entziehen. Das Hausmädchen wirkt im ersten Augenblick bereits mysteriös und unheimlich. Chabrol spielt geschickt mit den Vorstellungen des Zuschauers, der zunächst nur Schlechtes von ihr erwartet, dessen Erwartungen aber im Laufe der ersten Hälfte des Films enttäuscht werden. Sie scheint dann doch nur eine beflissene, bienenfleißige unter ihrer Leseschwäche sehr leidende und daher bemitleidenswerte, gleichwohl grundsympathische und ehrliche Person zu sein. Die weitere Entwicklung und vor allem das krasse Ende des Films stellen diese Ansicht wiederum auf den Kopf und bewirken so eine doppelte Enttäuschung des Zuschauers. Isabelle Hupperts Charakter, eine diabolische Psychopathin, gescheitert und frustriert, in die Dorfpost versetzt, weil sie aufgrund der Kindestötungsvorwürfe in der Stadt nicht mehr tragbar war, entzündet und schürt in dem Hausmädchen ein letzendlich vernichtendes Feuer.
Die Charaktere der Familie einzuordnen, fällt schwer. Sie sind sicherlich spießig-bürgerliche Bohémiens. Aber sie sind alle von Anfang an gutmütig und freundlich und bilden sich auf ihren Reichtum nichts ein, lassen das Hausmädchen voller Vertrauen allein im Haus, als sie für ein paar Tage in Urlaub fahren. Sie sind Musterbeispiele für unschuldige Opfer, denen einzig ein Fehler zum Verhängnis wird: dass sie mehr haben als andere. Ihre ständigen Bemühungen, ihrem Hausmädchen in jeder Hinsicht zu helfen und Gutes zu tun, werden von dieser nicht gedankt und nicht angenommen.
Die Leseschwäche des Hausmädchens steht in scharfem Kontrast zur Kunst- und Kulturverliebtheit der Familie, die ein Zimmer als großzügige Bibliothek eingerichtet hat und der Musik und der Malerei zugetan ist. Und während die Postangestellte verarmt ist, hat die Familie den Reichtum, den sie sich wünscht: „Nur ein Zehntel von dem, was die haben, und ich könnte ein Leben leben, wie ich es mir vorstelle, und nicht das Gegenteil davon“. In den beiden Frauen werden im Verhältnis zur Familie auf zwei Ebenen Klassenkonflikte offenbar: Armut an Bildung und Armut an Vermögen. Diese Konflikte können nur durch gewaltsame Revolution von unten gelöst werden. Und diese Revolution findet ausgerechnet in der Bibliothek statt.
Bemerkenswert – vor allem im Vergleich zu FUNNY GAMES – fand ich den Schluss von LA CELEBRATION. Nachdem die Morde geschehen sind – das Hausmädchen gibt auch einen Schuss auf die Bücherregale ab, der mehrere eingereihte Bücher zerfetzt – und die beiden Freundinnen verabredet haben, wie das Hausmädchen den Tatort herrichten solle, damit der Verdacht abgelenkt und die Beweise vernichtet würden, versucht die Postfrau ihren vor dem Haus in einer Kurve abgestellten PKW zu starten. In diesem Moment fragte ich mich, wieso Chabrol hier nicht einfach Schluss macht und uns allein lässt wie Haneke es getan hätte. Jedenfalls: die Startversuche misslingen, und im nächsten Augenblick fährt ihr ein anderer PKW auf, sie wird tödlich verletzt. Als das Hausmädchen zur Unfallstelle kommt und Polizei und Rettungswagen sieht, erkennt sie, dass der Fahrer des auffahrenden Wagens der Pfarrer des Dorfes ist. Hier erst wurde mir klar, wie der Titel der Romanvorlage des Films – JUDGEMENT IN STONE –zu verstehen und was die Aussage des Films ist: wenn das Justizsystem auch versagt, ein Urteil wird gefällt werden, und ein Urteil in Stein ist nichts anderes als die Inschrift, das „verstorben am…“ – auf dem Grabstein.
LA CÉRÉMONIE ist für meinen Geschmack ein großartiger und deswegen sehr zu empfehlender Film, weil er nicht nur hervorragend in Darstellerleistung, Musik und Dialogen ist, sondern viele verschiedene Fragen stellt, sie geschickt in einem Handlungsrahmen miteinander verbindet. Chabrol gelingt es, den Zuschauer zu überraschen und mit seinen Erwartungen zu spielen. Nie weiss man genau, was in diesem Hausmädchen vorgeht, das so wenig preisgibt von sich. Der Film läuft auch nach seinem Ende noch weiter und geht dem Zuschauer lange nach.